Es handelt sich um mehrere Essays rund um das Thema Liebe und Freundschaft

Empfehlung: die teils längeren Essays auf Papier ausdrucken und nach Wunsch umformatterien. Somit liest sich einprägsamer und angenehmer. Diese Essays sind teilweise tiefgründig.

Liebe und Gegenseitigkeit

Es ist dies mein bester Essay auf Deutsch! Es handelt sich um die Fassung eines Essays, der 1995 auf Englisch bei Blackwell veröffentlicht wurde.

Die Vorstellung, die wir von uns selbst haben, geht — mindestens zum Teil — aus unserer Einbindung in Beziehungen hervor. Es sind vergangene, gegenwärtige oder werdende Beziehungen, von Freundschaft oder Feindschaft, von oberflächlicher oder inniger Liebe, mit oder ohne Sexualität. Und kaum anzuzweifeln ist auch, daß unsere Fähigkeit azum Glücklichsein abhängt vom Schicksal bestehender oder zukünftiger Beziehungen. In der Tat braucht eine Beziehung überdies, wenn sie gedeihen soll, die Liebe auf Gegenseitigkeit.

Wieviel Gegenseitigkeit? Und worin besteht diese Liebe, die so schnell in aller Munde ist?

Zuneigung, Fürsorge, Bindung

Zuerst könnte man meinen, Liebe sei ein bestimmtes Gefühl. Zuweilen heißt, Gefühle für jemanden hegen, nichts anderes als Liebe für ihn zu empfinden. Liebe empfindet man eben, oder nicht.

Ein erster Einwand gegen die Einordnung der Liebe als Gefühl ist, daß Gefühle unbeständig sind, die Liebe aber sich als dauerhaft erweisen soll.

Bei weiterem Nachdenken stellt sich heraus, daß die Liebe kein einzelnes abgeschiedenes Gefühl ist, sondern gleich ein ganzes Gefüge an Emotionen. Die Liebe kann sich beispielsweise auch darin zeigen, daß man einen Menschen vermißt, sich um ihn Sorgen macht oder sogar Wut auf ihn hat. Es gibt zudem keine Gefühle, die uns ununterbrochen im Bewußtsein vorschweben.

Aussagekräftiger als dieser Blick nach innen mag unsere Urteilsweise sein, wenn ein anderer behauptet, Liebe zu empfinden. Zuweilen nehmen wir ihn beim Wort. Meistens aber schauen wir auch genau hin, wie er sich verhält.

Wäre die Liebe also gleichzusetzen mit einer Art zu handeln? Nein, denn diese Auffassung ließe eben die Empfindung von Liebe — oder Zuneigung — außer acht. Das Vorhandensein einer fürsorglichen Handlungsweise reicht allein nicht aus für die Behauptung, hier sei Liebe, obwohl sie freilich ein guter Anhaltspunkt sein mag. Jemand kann fürsorglich sein, d.h. die Handlungen der Liebe ausführen, aus einem Pflichtgefühl heraus. Man denke an eine Krankenschwester oder besser noch an den pflichtbewußten Ehemann, der für seine Frau nichts mehr empfindet.

Zusammenfassend läßt sich die Liebe weder als ein Gefüge von Gefühlen noch als eine Handlungsweise einordnen. Man könnte sie vorerst aber metaphorisch als "Unterströmung" begreifen, die sich zuweilen in Handlungen äußert, zuweilen in der Form von Gefühlen.

Jetzt will ich einen weiteren Begriff einführen und erörtern: die Bindung. (Man könnte auch von Fokussierung sprechen.)

Unser Selbstgefühl, d.h. die Art und Weise, mit der jeder von uns sich sein Ich vorstellt, geht einher mit unserer Wahrnehmung von anderen Menschen. Und sind gerade keine Menschen da, die wir wahrnehmen können oder wollen, so denken wir an Menschen, die wir kennen oder gekannt haben, oder wir erfinden sie sogar.

Die Bindung geht über diese minimale Orientierung an anderen hinaus. Sie kommt zustande, wenn die Menschen, an die wir — etwa bei unseren Selbstgeprächen — denken, immer wieder (über Monate und Jahre hinweg) die gleichen sind. Tatsächlich wird dann unsere Selbstwahrnehmung über unsere Vorstellung dieser anderen Personen vermittelt; (was keinesfalls heißt, daß unsere Selbstauffassung mit den Urteilen unseres Selbst durch diese anderen Personen gleichzusetzen ist.)

Die Menschen, die für uns diese zentrale Rolle spielen, wechseln freilich mit der Zeit, diese Veränderung ist aber notwendigerweise langsam. Auch der Prozeß der Anbindung ist normalerweise ja ein langsamer.

Wichtig sei hier anzumerken, daß die beschriebene Bindung nicht auf Gegenseitigkeit beruhen muß. Wir spielen nicht unbedingt diese Rolle bzw. eine gleich bedeutsame Rolle für die Menschen, an die wir uns gedanklich anlehnen. Wenn aber eine auch noch schwache Gegenseitigkeit zustandekommt, kann man beginnen, von einer Beziehung zu sprechen.

Das Vorhandensein einer Bindung oder einer Beziehung muß noch lange nicht bedeuten, daß es sich um Liebe handelt. Gleichfalls kann Liebe (und damit auch eine Bindung) vorhanden sein, ohne daß von einer Beziehung im engeren Sinne gesprochen werden kann: man denke zum Beispiel an Fälle der Entfremdung. Eine Beziehung verläuft ja notwendigerweise in beide Richtungen: sie läßt sich von außen betrachten, es findet ein Austausch statt; sie spielt sich jedenfalls nicht nur im Kopf ab. Ob eine Beziehung tatsächlich auch eine liebende ist (sie gibt dies vielleicht vor), steht auf einem anderen Blatt.

Ansprüche, Verpflichtungen, Anmassungen

Im Rahmen einer engen Beziehung könnte jemand sagen, "Du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben und ich will auch in deinem Leben der wichtigste sein."
Hier wird einiges angesprochen.
Zuerst scheint es sich um eine Liebeserklärung zu handeln. Im Prinzip könnte dies aber auch von einem erbitterten Feind gesagt werden.

Beim näheren Hinschauen ist diese Aussage (immer vorausgesetzt sie sei aufrichtig) weder ausreichend für die Liebe, noch wäre sie unbedingt deren Vorbedingung: denn man kann sicherlich mehr als einen Menschen lieben.

Nichtsdestoweniger kann es sich doch um eine Liebeserklärung handeln. Stellen wir uns aber einmal vor, daß nur das als Liebe gelten würde, was sich in einer solchen Erklärung aufrichtig aussprechen ließe. Das heißt, wie wäre es, wenn jede Liebe nach dem Muster der "wichtigsten-Person-Aussage" zu beschreiben wäre. Das heißt, jeder Mensch, dem gesagt wird, er werde geliebt, würde antworten: Du kannst nur behaupten, mich wirklich zu lieben, wenn du mich zugleich als die wichtigste Person in deinem Leben erachtest.

Nur in einer Welt, die wie ein Wunder geordnet wäre, könnte jeder eine derartige Liebe geben und empfangen. Es wäre, notgedrungen, eine Welt von Paaren (allerdings nicht unbedingt sexuell verbundenen Paaren: die Sexualität ist eine andere Sache). In einer Welt, die nicht wie von einer guten Fee geordnet ist, könnte zwar im Prinzip fast jeder gepaart sein, eine Wahlverwandschaft wäre die Beziehung selten. Damit sind wir auch bei unserer Wirklichkeit, in welcher Menschen wichtig oder weniger wichtig füreinander sind, und zwar in ziemlicher Unabhängigkeit von ihren tatsächlichen Beziehungen.

Zurück zu jenem Ausspruch. Er enthält erstens eine Aussage über die Empfindung des Sprechers gegenüber dem Angesprochenen. (Oder handelt es sich um einen Schwur?) Er drückt aber auch einen Wunsch aus, der leicht einer Forderung gleichkommt, einer Forderung, die sich aus der ersten Aussage ("Du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben") anscheinend unmittelbar ableitet. Die Folgerung aber ist falsch. Ein Kind kann der wichtigste Mensch im Leben seines Vaters sein, der Vater aber, ist er ein guter Vater, wünscht nicht die wichtigste Person im Leben seines Kindes zu sein.

Bei diesem Gegenbeispiel handelt es sich um eine Beziehung, die von sich aus radikal asymmetrisch ist. Vielleicht müssen wir den Blick auf Beziehungen zwischen Erwachsenen richten, die gleichgestellt sind. Ist nun die Forderung (daß ich für den Anderen die erste Stelle einnehme) dadurch berechtigt, daß der Andere für mich der wichtigtste Mensch ist?

Im Gegenteil: es ist eine Anmassung.

Zum Teil stammt die Anfechtbarkeit von den Superlativen. Die moralische Qualität der Aussage nimmt eine andere Perspektive an, sobald sie abgeschwächt ist, zum Beispiel, "Du bist sehr wichtig in meinem Leben und ich will auch in deinem Leben eine Rolle spielen."

Was sich vorhin so anmassend anhörte, ist mit einem Mal bescheiden, so sehr, daß es beinahe herzlos wäre, dieses Verlangen ohne weiteres abzuschmettern. Es ist, als ob in dem Maße, wie die Forderung sich abschwächt, auf den Anspruch des alleinigen Besitzes verzichtend, die wahre Liebe deutlicher hervortritt.

In der Tat legt Liebe keine Bedingungen fest, Eine Liebeserklärung ist kein Vertragsangebot nach der Art, "Ich will dich lieben, aber nur dann, wenn du mich im Gegenzug auch liebst". Das wäre sicherlich ein Angebot der Verpflichtung, das nicht zu verschmähen wäre. Unter praktischen Gesichtspunkten kann es unter Umständen äußerst willkommen sein, aber es ist etwas anderes als eine Erklärung der Liebe. (Die Liebeserklärung beinhaltet bereits eine Verpflichtung und ist somit mehr als ein Angebot. Sie sagt aus, "Du kannst mich belangen. Ich werde Dir Zeit, Aufmerksamkeit, Unterstützung geben.")

Die in der Liebeserklärung zum Ausdruck gebrachte Verpflichtung kann ausgenutzt werden. Der Liebende muß Vertrauen aufbringen, daß der Andere seine Gefühle nicht ausnützt, jedenfalls nicht auf bestimmte Art und Weise. Er kann sich dabei irren, wie er sich auch im allgemeinen bei seiner Wahrnehmung des Anderen irren kann. Lieben beinhaltet eben, sich auf besondere Weise verwundbar zu machen.

Kehren wir kurz zur totalitären Tonart der ursprünglichen Aussage zurück. Die ins Absolute ausartende Komponente ("wichtigste") macht den Weg frei für eine totale Verwundbarkeit. Dort, wo die Liebe auf mehrere Menschen gerichtet ist und somit das emotionelle Leben sich aus mehreren Beziehungen speist, kann die Vielfalt der Verpflichtungen zwar selbst Konflikte heraufbeschwören, die anderen Beziehungen ermöglichen aber gleichzeitig einen Ausgleich.

In der ursprünglichen Erklärung ("und ich will auch in deinem Leben der wichtigste sein") kommt ein Verlangen nach totaler Gegenseitigkeit zum Ausdruck. Ich habe angedeutet, daß als Forderung dieses Verlangen anmassend ist, d.h. moralisch gesprochen nicht legitim. Das Argument ist, daß die Liebe (vorausgesetzt, es handelt sich tatsächlich um Liebe) keine Bedingungen im eigentlichen Sinne stellt. Das bedeutet aber nicht, daß die Liebe keine Bedingungen (d.h. für ihren Fortbestand) nötig hat. In der Annahme, daß die Liebe ein Gebilde sowohl der Gefühle wie auch entsprechender Handlungen ist, braucht sie zu ihrer Vewirklichung in irgendeinem Sinne die Gegenwart des Geliebten (um ja auch entsprechende Handlungen überhaupt ausführen zu können). Auch im Falle der Trennung drückt sich die Liebe im Versuch aus, die Trennung zu überwinden. Als Empfindung (und somit auch die Bereitschaft entsprechend zu handeln) kann die Liebe lange fortbestehen, sie ist dann freilich eine frustrierte, eine unglückliche Liebe. Die Situation ist also diese, daß die Liebe keine Bedingungen stellt in dem Sinne, daß sie eine Verhandlungsposition aufnimmt, z.B. die Drohung, sich abzuwenden, wenn der Andere nicht entsprechend reagiert. Ein derartiger Rückzug wäre undenkbar, d.h. ein Widerspruch an sich, soweit die Grundeinstellung die der Liebe ist. Die Liebe ist ja kein Vertrag, der sich kündigen läßt. (Die Situation ist derjenigen ähnlich — obwohl ernsthafter — wo jemand einen anderen gern hat: aufzuhören, einen Menschen zu mögen, bloß weil er einen im Gegenzug nicht mag, ist nicht einfach kindisch, sondern unsinnig.) Die Liebe ihrerseits setzt zwar keine Bedingungen, sie hat aber nichtsdestoweniger ihre Voraussetzungen, nämlich die, in denen sie gedeihen kann. Wie diese Bedingungen im einzelnen aussehen, ist freilich eine andere Frage.

Die Liebe — als Bindung — läßt sich nicht auflösen. Somit steht es dem Liebenden nicht frei, aus Liebe (zu einem Menschen, der diese Liebe nicht annehmen will) auf den geliebten Menschen zu verzichten. Wenn er kommt, dann kommt der Verzicht nicht aus Liebe zustande, sondern anderswoher, etwa durch eine seelische Spaltung oder durch ein Absterben der Liebe. Die Abweisung einer intensiven Liebe wird auch bedrohlich ähnlich zur Todesnähe erlebt, als würde der Abweisende den Liebenden sterben lassen wollen.

Die Schlußfolgerung dieser Überlegungen: Der Anspruch oder die Forderung "Ich will die wichtigste Person in deinem Leben sein" ist tatsächlich eine Anmaßung, der Wunsch aber, eine wichtige Person im Leben des Anderen zu sein, bleibt vollkommen legitim. Der Wunsch nach einer gewissen Gegenseitigkeit ist immer vorhanden, denn die Liebe hat ja die Umstände nötig, in denen sie gedeihen kann.

Worin aber besteht die Gegenseitigkeit? Was soll entgegengebracht werden? Bis hierher sprachen wir im allgemeinen von der Liebe. Es hört sich also so an, als ob eine gewisse Gegenseitigkeit vonnöten ist, man darf aber nicht erwarten, daß sie in beiden Richtungen gleich groß zu sein hat. Es gibt freilich Situationen, in denen es sinnvoll ist, so zu sprechen, d.h. in denen ein ungefährer Vergleich der Intensität der Liebe möglich ist. Im allgemeinen aber erfordert das Nachdenken über die Liebe Begriffe, die viel subtiler sind. Fragen wir einmal genau danach, was entgegnet wird, so werden wir uns über die Symmetrie der Beziehungen bewußt. (Relevant ist hier, daß das Wort "Beziehung" meistens den Gedanken einer engeren und intimen Freundschaft zwischen Mitgliedern der zwei Geschlechter weckt. Ganz abgesehen vom Aspekt der sexuellen Anziehung und Intimität, handelt dieser Gedanke von Personen, die in wichtiger Hinsicht unterschiedlich sind, womit auch eine genaue Symmetrie — je nach deren Definition — unwahrscheinlich oder ausgeschlossen ist.)

Um die Dynamik der Liebe und der Beziehungen besser in den Griff zu bekommen, brauchen wir andere Begriffe, nämlich die Kompatibilität (Harmonie) und die Wechselseitigkeit (im Sinne einer gegenseitigen Ergänzung).

Kompatibilität kann im negativen Sinne vorhanden sein, wenn keine ernsthaften Konflikte entstehen. Meistens verlangen wir etwas mehr, besonders bei einer engeren Beziehung: wir erwarten eine gegenseitige Ergänzung, d.h. daß der eine das beiträgt, was dem Anderen fehlt. (Eine antike Denkweise faßt die Liebe als Mangel auf, definiert sie sogar durch den Mangel. Ein entgegengesetzter Ansatz sieht die Liebe aber als Überfluß — den Liebenden drängt es, zu geben und zu schenken, aus Fülle heraus.)

Diese Wechselseitigkeit, d.h. der ideale Ausgleich des Gebens und des Nehmens, kann in zweierlei Art und Weise verstanden werden. In dem einen Augenblick etwa wird etwas gegeben, von Anne an Bert, und im nächsten Augenblick wird wieder etwas gegeben, diesmal von Bert an Anne. Eine andere, feinere Form der Wechselseitigkeit kommt aber zustande, wenn das, was aus der Sicht von Anne ihr gegeben wird, aus der Sicht von Bert ihm gegeben wird. Anne möchte eine Geschichte erzählen, und Bert möchte eine hören. (Es kann vorkommen, daß Bert eine Geschichte von Anne erzählt bekommen will, und daß Anne dem Bert eine Geschichte erzählen will; das ist wiederum anders und komplizierter. Die Tiefe, die Resonanz, die Bedeutung, die dem Austausch anhaften kann, hat sicher etwas zu tun mit den rekursiven Möglichkeiten dieser Situationen — d.h. mit ihrer Art, sich ins Unendliche wiederzuspiegeln).

Die Wechselseitigkeit kommt selten von allein: auch unter günstigen Voraussetzungen muß daran gearbeitet werden. Hier ergibt sich die Überlegung, daß eine Beziehung gepflegt werden muß: Das Gedeihen der Beziehung an sich wird zur zentralen Zielsetzung.

Hier findet aber eine wesentliche Verlagerung statt, weg von der Fokussierung auf die geliebte Person. Die Besonderheit des Anderen ist mit einem Mal zweitrangig, dafür ist der Erhalt der Beziehung — vielleicht sogar bloß einer Beziehung — an zentrale Stelle gerückt. Möglicherweise wird die Beziehung geliebt und weniger der Mensch, dem die Beziehung gilt. Betrachen wir einmal die gesellschaftliche und damit auch psychologische Rolle von "Beziehungen" bei der Wahrnehmung des eigenen sozialen Wertes und der Identität (d.h. Beziehungen, für die das Element "wichtigste Person" maßgeblich ist), so zeigt sich, daß ein derartiges SichBefassen mit der Beziehung an sich leicht auf Kosten der eigentlichen Liebe zum Anderen gehen kann. Ein Ausweg aus dieser Problematik wäre doch, darauf zu bestehen, daß die Pflege der Beziehung die Hinwendung zur Person (als Person in ihrer Eigentlichkeit) voraussetzt, oder zumindest aber beide Aspekte gleich wichtig sind. Diese Überlegungen sind nicht ganz so weit hergeholt, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. Wenn man sich alleine auf die Beziehung konzentriert, kann man sich leicht zu Manipulationen verführen lassen. Das heißt: Man beschäftigt sich zunehmend mit der Art und Weise, wie der Andere (als Gegenpol in der Beziehung) einen sieht, anstatt aufrichtig zu zeigen, wie man wirklich ist bzw. welche Gefühle man dem Anderen gegenüber hegt. Durch einen diplomatischen Umgang wird eine Harmonie erreicht, aber eine hohle. Man managt die Beziehung, man managt sie sogar ausgezeichnet, anstatt sie zu leben.

Wo ist nun ein Schwerpunkt der Liebe, wenn weder die wohlwollende Einstellung des Liebenden, noch das Gedeihen der Beziehung, in der sich der Liebende befindet, den Kern der Liebe ausmacht?

Eine Orientierung wäre doch das Glücklichsein des geliebten Menschen. Demzufolge wäre die Liebe der Wille, daß der andere glücklich sei und zwar so, daß der Liebende nicht nur das Glück des Geliebten wünscht, sondern daß er selbst zu diesem Glück beitragen mag.

Das würde bedeuten, daß zum Wesen der Liebe eine Anmaßung gehört. Der liebende Mensch geht davon aus, besteht sogar darauf, daß er zu dem Glücklichsein des Anderen beitragen kann. Diese Anmaßung verrät ein grundlegendes Vertrauen in sich selbst, ein Vertrauen, das wir im allgemeinen als wünschenswert, als lebensnotwendig oder auch als Ausdruck positiver "Selbstliebe" einstufen würden.

Diese Anmaßung schlägt in Tyrannei um, wenn der Betreffende sich anschickt, nicht nur eine, sondern die einzige Quelle des Glücks des Anderen zu sein.

Anstelle der Förderung des Glücks — das ist vielleicht eine etwas hochtrabende Formulierung — kann man ebensogut von der Förderung des Wohlergehens oder des Gedeihens des Anderen sprechen. Oder sonst schlicht von dem Guten für ihn.

Hier wird ersichtlich, wie die Liebe eine Kraft zum Guten sein mag, und dabei doch in Widerspruch zu ethischen Belangen geraten kann. Denn das Gute für den einen, der geliebt wird, kann sehr wohl mit dem Guten für einen Anderen, der nicht in den Genuß dieser Liebe kommt, in Konflikt stehen. Darüber hinaus kann man sich irren, was nun gerade für den Anderen gut sei. (Und in vielen anderen Hinsichten auch.)

Wir könnten zum Beispiel feststellen, daß der Mensch, an den wir uns gebunden fühlen (und den wir zu lieben meinen) ein Anderer ist, als wir uns vorstellten. Was geschieht der Liebe in diesem Fall, und wie sollten wir verfahren? Ist eine derartige Änderung in der Wahrnehmung ein Grund, die Beziehung zu beenden? Muß die Bindung auf die "neue" Person sich übertragen, oder sollte sie aufgegeben werden?

Ein Gebundensein oder das Gefühl der Nähe kann nachlassen, und läßt sich kaum erzwingen. Aber unter den beschriebenen Umständen kann das Gefühl allein (bzw. dessen Fehlen) nicht den Ausschlag geben. Es besteht zumindest ein Gebot der Unterstützung, wenn auch nur für eine gewisse Zeit, wobei eine gewisse Zeit auch lange sein mag. Aus der Liebe leitet sich ein Engagement ab, und ein Teil der aus dem Engagement entstehenden Verpflichtung bleibt erhalten, auch wenn das Gefühl, zu lieben, abgeklungen ist.

Vor der Liebe sind wir also gut beraten, kritisch mit unserer Wahrnehmnung (Einschätzung, Beurteilung) des Anderen umzugehen, obgleich ausgerechnet ein Übermaß an kritischer Wahrnehmnung zerstörerisch wirken kann gegenüber jenem großzügigen Impuls, einen Menschen zu lieben, — ein Impuls, der diesem Menschen zutraut, ungefähr so zu sein, wie wir uns ihn erhoffen. In der Tat kann es sein, daß wir einen Mensch erst dadurch überhaupt kennenlernen können, indem wir eine Gefühlsbindung eingehen. Festzuhalten ist hier, daß in diesem Fall ein Vertrauen vorhanden sein muß, der Andere werde uns entgegenkommen, die Hand reichen, unter Umständen sogar über sich hinauswachsen. Bedenkt man, was es heißt, einen Menschen zu kennen, und bedenkt man auch die Möglichkeit, sich in seiner Wahrnehmung des Anderen zu täuschen, (und hier lassen wir noch ganz die Gefahr außer Acht, selbst auf Ablehnung zu stossen oder mißverstanden zu werden), so wird die tatsächliche Gratwanderung in der Liebe — jedenfalls zu Beginn — überdeutlich.

"Zu Beginn" — zu jeder Beziehung und der sie durchdringenden oder auch fehlenden Liebe gehört eine Geschichte, wie auch die Menschen, die sie erleben, ihre jeweilige Vergangenheit haben; das ist keine Nebensächlichkeit. Bindungen gehen aus einer Reihe von Begegnungen und aus wechselseitigem Austausch hervor. Deshalb kann es dem Außenstehenen so merkwürdig vorkommen, daß bei so manchem Paar beide Partner sich so nahe wähnen, obgleich sie objektiv gesehen weit auseinander sind. Ob es sich hierbei um Liebe handelt, und inwieweit die Beziehung auf gegenseitiges Gedeihen abgestellt ist — das ist freilich eine ganz andere Sache. Vertrautheit ist nicht mit Liebe gleichzusetzen.



© Paul Charles Gregory 1996 > Essay als PDF



Der Eigennutz und die Liebe

Man kann den Standpunkt vertreten, daß der Liebende (auch der „selbstlos“ Liebende) jeweils etwas zurückverlangt oder erhält und insoweit immer ein Austausch herbeigesehnt wird. Man kann diesen Standpunkt als zynisch oder realistisch bezeichnen. Aber das, was im Falle der „selbstlose“ (uneigennützigen) Liebe zurückkommen mag, ist doch seinem Wesen nach völlig anders als das, was in einer ausgeglichenen Beziehung (d.h. einer Beziehung auf Gegenseitigkeit) zurückfliesst. So handelt es sich dort eher um eine Bestätigung, daß die Liebe überhaupt angekommen ist und wirkt. Das heißt, es handelt sich um ein Wissen um den Anderen. Dieses Wissen wird auch benötigt, wenn die (uneigennützige) Liebe sich fortsetzen soll, denn sonst geht sie womöglich ins Leere (die Hoffnung zumindest, daß sie wirken mag, muß genährt werden).

Wo geht diese Liebe hin?
Sie wird, im guten Falle, weitergereicht.

Zum Beispiel: (i) Die Eltern lieben das Kind, mit der Folge, daß es später seine Kinder – also die Enkelkinder – lieben kann. (ii) Der Ehemann (aus der guten Tradition, die sich heute überholt anhört) mag seine (meinetwegen von klein auf verletzte) Frau lieben, mit der Folge, daß sie besser gerüstet ist, die gemeinsamen Kinder zu lieben. (iii) Der Gastgeber führt seine Gäste zusammen und hat dafür gegebenenfalls nur die Befriedigung (oder den Trost), daß auf sein Wirken hin neue Freundschaften für die anderen (vielleicht aber nicht für ihn) entstanden sind.

Es kann auch sein, daß diesem „selbstlos“ Liebenden wiederum Liebe von anderer Stelle zugeführt wird und ihn stärkt, ohne aber daß er gerade diese Liebe zu erwidern (zu vergelten) weiß.

Ich behaupte: Die Liebe macht ihrem Wesen nach kein Kalkül. Zugegeben: im praktischen Umgang, und insbesondere im Umgang der seelisch beschädigten Menschen miteinander, ist es bestimmt gesund und sinnvoll, wenn doch eine Gegenliebe abverlangt wird, denn sonst kommt es zu einer Ausnützung. Dann aber ist die Liebe – streng genommen – eine Leistung auf Gegenseitigkeit, und kein Geschenk mehr.

Ich mag aber hier kein Lob auf die „selbstlose“ Liebe machen: nur darauf hinweisen, daß die Liebe ihrem Wesen nach die Grenzen des Austausches sprengt. Die Liebe ist – nach mir – eigentlich weder selbstlos noch selbstbedacht. (Sie läßt sich nicht auf Motive reduzieren). Sie ist eine Verausgabung, eine Verschwendung, ein Luxus zum Weiterreichen.

Die Kehrseite dieser Auffassung besteht darin, daß man alles von einer nahestehenden Person abverlangen darf, so Aufmerksamkeit, Unterstützung, Zuwendung, Zeit, Intimität, freundlichen Umgang, nur eins nicht: die Liebe. Denn die Liebe ist unentgeltlich.

Die Wörter „Ich liebe dich“ darf man nicht verlangen, und auch nicht aussprechen, wenn dies in der Erwartung geschieht, daß sie zurückommen. (Es sind im übrigen abgedroschene Floskel, die am meisten von denen gesprochen werden, die das wenigste Anrecht haben, diese Worte in den Mund zu nehmen.)

Die Liebe ist immer wieder da, wo man sie nicht vermutet (und öfters auch nicht – zeitlich, rechtzeitig – erkennt) und häufig fehlt sie dort, wo sie gemeinhin zu erwarten wäre. Der Eigennutz ebenso.



© Paul Charles Gregory 2007

Der Eigennutz und die Liebe
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Die Liebe im Lichte des Selbst

Zuerst werden wir (in manchen Kreisen zumindest) erzogen, an andere zu denken und nicht nur unsere eigenen Belange zu berücksichtigen. Die Selbstsucht, die Selbstgefälligkeit, die Verliebheit in sich selber seien alle verwerflich. Und dann soll man sich lieben, mit einer guten Selbstliebe wohlgemerkt. Also ist diese Liebe gut, wenn sie nicht gerade schlecht ist! Und der Selbst ebenso.

Die eigentliche Liebe ist immer gut, heißt es. Und wenn mal nicht, dann war sie eigentlich doch keine Liebe. Hilfreicher ist es aber von unglücklichen oder verfehlten, misslungenen oder falschen Bindungen zu sprechen. Mein Rat: Immer Vorsicht vor den grossen Tieren, vor Liebe, vor Gut und Böse, vor Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Besser den präzisen Begriff benutzen, wenn es nur geht: das ist anstrengender und produktiver als die abstrakten Verallgemeinerungen.

Erstens ist das, was Liebe eigentlich bedeutet, keine gelaufene Sache. Das Selbst ist aber noch unhandlicher. Man behauptet sogar, daß es sich eher von dem definieren läßt, was Nicht-Selbst ist.

Dem gegenüber – oder dem hinzu – setze ich andere Bilder. Das Selbst pulsiert. Besser noch: es hat Ebbe und Flut. Die wahrgenommene Welt teilt sich im Laufe der Zeit unterschiedlich auf zwischen Selbst und Ncht-Selbst, die Horizonte des Selbst sind mal enger daran, mal weiter entfernt.

Die alten Klamotten, in denen ich mich wohl fühle, sind wie eine zweite Haut, die Menschen, die mir meist am Herzen liegen, sind mir immer in Gedanken, ihre Gesten und Worte stecken in mir wie ein Teil von mir selbst. Nach dem Unfall und dem Scheiden der Freunde werde ich aber nur noch dieser nackte Körper, diese Unbeweglichkeit, dieser Schmerz. Das Selbst atmet aus und ein.

Nur im Lichte des Selbst können wir sehen, aber in die Licht spendende Sonne selbst können wir – dürfen wir – nicht hineinschauen.



© Paul Charles Gregory 2007



Die Liebe im Lichte des Selbst
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Verschmelzung & Begegnung

An anderer Stelle habe ich von Liebe als Austausch im Gegensatz zu Liebe als Verausgabung zum Weiterreichen gesprochen. Auch bei den Beziehungen will ich zwei Auffassungen unterscheiden; die Verschmelzung oder Symbiose einerseits und die Begegnung andererseits. Soweit eine Verschmelzung überhaupt denkbar ist, läuft sie in der Praxis nicht selten darauf hinaus, daß einer in den Anderen untergeht. Der biologische Begriff der Symbiose ist als Vorbild wohl eher geeignet, die gelungene Verschmelzung abzubilden. Aber eine ganze Menge muß zusammenkommen, damit die Symbiose auf Dauer gelingt. Die kritische Menge läßt sich schlecht herbeisehnen, und wenn sie nicht von allein zustandekommt, wird die Beziehung zwanghaft; aber mit Zwang geht es eben nicht.

Man soll so viel Nähe anstreben, wie die Begebenheiten (die beiden Veranlagungen) zulassen. Mehr nicht, und auch nicht weniger. Lieber mit weniger Nähe miteinander gut leben, als eine Nähe herbeizwingen, die auf Kosten der beiden Seelen (etwa der Aufrichtigkeit) geht. Aber auch nicht Angst vor der Annäherung haben. Die Annäherung ist nicht das gleiche wie die Nähe. (Die Kraft der Erotik besteht in der Annäherung eher als in der sexuellen Verschmelzung allein.)

Mit dem Konzept der Begegnung kommt man, so meine ich, weiter. Eine Begegnung so verstanden muß nicht von kurzer Dauer sein: sie mag jahrelang oder jahrzehntelang dauern, oder, anders gesagt, es kann sich um eine lange Reihe von Begegnungen handeln (man kommt immer wieder zusammen). Sie kann auch die Verbindlichkeit einschliessen. Es kommt auf das Bild, auf die Auffassung, an. (Man könnte alternativ von Freundschaft sprechen, und eine Freundschaft mag sich auch aus anderen Freundschaften und Begegnungen nähren, aber ich halte lieber an das Bild der Begegnung anstelle der Freundschaft, gerade wenn die Beziehung auch eine erotische Komponente aufweist.)

Ich komme auf das Metapher Symbiose zurück. Ein anderes Metapher aus der Biologie, das in den letzten Jahren in die Mode gekommen ist, ist die Ökologie, d.h. das Zusammenspiel der verschiedenen Lebewesen. Jeder findet seine Nische. Auch in einer Familie kann sich jede eine Rolle ausfindig machen, die zuerst unbesetzt aber gebraucht wird. Ob sie auch eine leidliche Rolle ist, steht wohl auf einem anderen Blatt.

© Paul Charles Gregory 2007

Verschmelzung & Begegnung
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Von einem Philosophen an einen Therapeuten

Kritische Diskussion um immerwährende Themen:

Liebe; Paarbeziehungen; die Selbstliebe; christliche Religion; die große, grobe Unvollkommenheit mitten im Leben; die Gegenliebe; Kalkül in der Liebe; die (Er)Findung der eigenen Identität; die Erotik; und einiges mehr.

Eine Buchbesprechung in der Form eines Briefes an den Autor:

Michael Cöllen: Liebe deinen Partner wie dich selbst -
Wege für Paare aus narzisstischen Krisen,
Gütersloherverlagshaus 2005


Zum Teil wird Bezug auf meinen uralten Essay “Wider die Paarbeziehung” genommen. Siehe hierzu die entsprechenden Essays unter www.thinking-for-clarity.de

Aus der Überzeugung, der Text dürfte sich gewinnbringend lesen, ohne das Buch von Michael Cöllen zu kennen, wird er hier dargeboten, ohne allerdings, da eine Veröffentlichung noch nicht angefragt oder vereinbart wurde, die freundliche und differenzierte Antwort von Dr. Cöllen wiederzugeben.
> E-Reader-freundliche PDF hier (ca. 4500 Wörter)