Letztbegründungen und Vernunft in der Ethik

I. Definitionen

„Moral“ wird hier verstanden als der Bereich des Umgangs miteinander, der von Sitten geregelt wird. Die Sitten sind die überlieferten Normen, die die meisten Menschen im Laufe der Sozialisierung verinnerlicht haben und somit mehr oder weniger praktizieren. Sie sind kulturell verschieden und ändern sich über die Generationen hinweg, wenn auch einige beinahe universell sein dürften. Über zahlreiche Sitten herrscht in einer Gesellschaft Einigkeit dergestalt, dass sie als Gesetze – etwa in einem Rechtsstaat – gelten. Bei anderen Sitten müsste man eher lediglich von Umgangsformen sprechen. Zwischen diese beiden Stühle fallen viele Angewohnheiten und Denkweisen, die sehr unvollständig beschrieben vorliegen: das ist die Moral, häufig konfus und zum Teil umstritten.

Zwei Perspektiven bieten sich für die Sicht auf die Sitten an. Man kann sie von außen (etwa als Anthropologe) betrachten: dann handelt es sich um statistische Gesetzmäßigkeiten, die somit einem Naturgesetz (z.B. in der Biologie) verwandt sind. Man kann sie umgekehrt von innen betrachten: dann werden sie als Verhaltensregel wahrgenommen, die die Menschen untereinander einzuhalten haben; oder auch einfach als Gewohnheiten, an die sich die einzelnen Menschen halten, ohne dass sie über deren Begründung besonders nachgedacht haben.

„Ethik“ wird hier verstanden als der Bereich, in dem diese Regeln des Umgangs miteinander nicht mehr greifen. Das kann zum Beispiel daher rühren, dass sie zu zahlreich und unscharf sind, als dass ihre jeweilige Rangordnung untereinander erkannt werden kann. Es kommt hinzu, dass Uneinigkeit darüber besteht, wie oder inwieweit eine Regel anzuwenden ist.

Es gibt ebenfalls Grenzgebiete, zum Beispiel, wenn ein stillschweigendes einvernehmliches Gebot oder Verbot in ein Gesetz umgesetzt werden soll; oder umgekehrt, wenn ein Gesetz aus dem Rechtskatalog ausgegliedert und dessen Beachtung nur noch dem Ermessen der Bürger untereinander überlassen werden soll.

Diese Definitionen dürften im Großen und Ganzen nicht strittig sein, oder wenn schon, dann nur, was die Feinformulierung anbelangt. Ihr Zweck liegt darin, Missverständnissen vorzubeugen und somit die anschließende Diskussion zu erleichtern, die zu mehr Klarheit für alle Interessierten bei diesem verworrenen Themenkomplex führen soll. Landläufig werden die Begriffe „Moral“ und „Ethik“ natürlich verwechselt, und je nach Kontext schadet der unscharfe Begriffsgebrauch wenig. Es geht vielmehr darum, dass eine Diskussion, bei der die Begriffsbestimmungen vorab geklärt sind, effizienter und besser geführt werden kann, wenn die Beteiligten sich entsprechend auf den Wortgebrauch geeinigt haben. Somit kann man, wenn man schon streiten will, über Wesentliches streiten, anstatt die Kräfte abwegig zu verpulvern.

II. Triebfeder

Wie kommt es, dass die einzelnen Menschen sich an die Moral (wie immer diese inhaltlich gestaltet ist) halten? Oder es stellt sich die subjektive Frage, warum man sich (als Einzelner) an die Moral halten soll. (Es gibt zwei Perspektiven, einmal aus Sicht des Beobachters, einmal aus subjektiver Sicht.)

Die kurze Antwort, die hier angeboten wird und zunächst als Antwort zur zweiten Frage nicht so richtig gelten dürfte, ist, dass es an der Gewohnheit liegt. Faktisch handeln und denken wir die meiste Zeit nach Gewohnheit. Auch wenn wir meinen, mit unseren Gewohnheiten zu brechen, dann doch nur mit einigen wenigen. Die meisten Angewohnheiten sind uns kaum bewusst: sie sind zum Instinkt geworden. Wir könnten sie uns auch nicht alle merken, zumindest nicht gleichzeitig. Was die Moral anbelangt, würde man von Sozialisation sprechen. Wir haben zahllose Verhaltensweisen und Umgangsnormen verinnerlicht. Es geht nur darum, dass wir gelegentlich einige wenige dieser Normen überschreiten oder für uns persönlich in Frage stellen.

Die Frage, die sich also eigentlich stellt, ist nicht die nach dem Beweggrund, überhaupt Moral einzuhalten, sondern nach den Gründen, in einer bestimmten Situation eine bestimmte Sitte (Regel oder Norm) zu beachten. Deren Missachtung lässt sich gegebenenfalls vor Anderen rechtfertigen; oder man kann zumindest für sich die Beachtung beziehungsweise Missachtung begründen.

Im 17. Jahrhundert hat Descartes bekanntlich möglichst alles in Frage gestellt, um zu einer gesicherten Wahrheit zu kommen. Bei seiner umfassenden Skepsis handelte es sich um eine Methode, nicht um eine Lebenshaltung. Descartes war kein Skeptiker. Sein Ansatz hat die westliche Philosophie – insbesondere die Epistemologie – bis weit ins zwanzigste Jahrhundert geprägt.

Er hat einen einfachen Fehler begangen. Es ist möglich, eine einzelne Sache (Erkenntnis, Überzeugung) anzuzweifeln, und es kann sich herausstellen, dass dieser Zweifel berechtigt ist. Es ist ebenfalls möglich, eine Reihe von Überzeugungen in Frage zu stellen, und auch hier mag sich herausstellen, dass man sein Weltbild entsprechend ein wenig abändern muss. Aber der Tatbestand, dass man isoliert Überzeugungen – oder, hier, isolierte Gewohnheiten und somit Sitten – in Frage stellen kann, bedeutet noch lange nicht, dass man alle in Frage stellen kann. (Nietzsche hat etwas Ähnliches mit seiner Metapher erklärt, man könne nicht auf hoher See das ganze Schiff zur gleichen Zeit umbauen.)

Mit Descartes hingen wir lange Zeit einem irreführenden Bild der Erkenntnis nach, dass nämlich diese ein Fundament wie ein Gebäude haben müsse; auch die Moral – so denken viele „Wissenschaftler“, „Ethiker“ und „Philosophen“ heute noch – müsse auf einem soliden Fundament ruhen, sonst verrutscht sie, und wir versinken in Schutt & Asche. Soweit der versteckte Fundamentalismus.

Und wenn die Welt doch nicht halbwegs flach ist, auf einem Elefanten oder einer Schildkröte ruhend?

Als Gegenbild bietet sich als Tier der Tausendfüßler an. Oder es ist so, dass wir in der Welt wie Fische schwimmen und ertrinken nicht.

Weitere Metaphern wären die geologische Schichtenbildung oder die historischen Überlagerungen, die in der Archäologie erforscht werden.

Aus der Feststellung, dass etwas gelegentlich der Fall sein kann, folgt also nicht, dass es immer so sein kann. Es handelt sich um den Trugschluss der Verallgemeinerung. Bei einer Regel kann es Ausnahmen geben; wenn aber die Regel nur aus Ausnahmen besteht, ist sie keine Regel mehr. Tatsächlich rühren viele Fehler daher, dass unüberlegt oder ungültig verallgemeinert wird.

Perspektivenwechsel ist angesagt, wenn die argumentative – logische – Kette zu Ende kommt und auf einen empirischen Tatbestand hingewiesen wird. „Es schmerzt“ ist meistens eine ausreichende Letztbegründung; Erhalt des Lebens auch; und so weiter. Es gibt Ausnahmesituationen, in denen diese Letztbegründungen hinterfragt werden, wenn man zum Beispiel die Schmerzen aushalten soll oder das Leben nicht mehr erhaltenswürdig erscheint. In solchen Fällen hat man eine neue argumentative Kette zu beginnen, die sich dann inhaltlich und qualitativ von der vorhergehenden abhebt. Aber auch diese Kette ist irgendwann zu Ende. Da sagt man, es ist so, oder ich bin wie ich halt bin. Das heißt, es wird eine unüberwindbare Feststellung gemacht und es gibt keine Triebfeder mehr mit der Kraft, diese umzuwerfen. Ähnlich, wie man nicht über den eigenen Schatten springen kann oder zuletzt in der eigenen Haut stecken bleibt.

Nach der Philosophie David Humes ist die tiefste Triebfeder für die Moral eine naturgegebene Empathie. Die jüngste Forschung gibt Hume Recht: meistens findet in unserem Gehirn (bei den Neuronen) eine Art Spiegelung dergestalt statt, dass wir einige Empfindungen unseres Gegenübers mitfühlen. So können auch wir – wenn nur schattenhaft – unter den Schmerzen des Gegenübers leiden. Es gibt bekanntlich Ausnahmen oder Entartungen, denn sonst gäbe es keinen Folter und keine sadistische Freude an den Schmerzen Anderer. Auch das wird erforscht: Psychopathen sollen imstande sein, diese Spiegelneuronen abzuschalten oder umzuschalten. Die Einzelheiten dürften überhaupt verzwickter und noch interessanter sein. So aber haben wir eine Hypothese über den Ursprung der moralischen Empfindungen bei der großen Mehrheit der Menschen. Die Hypothese ist zunächst plausibel — bewiesen ist sie natürlich nicht. Aber demnach wäre dieser Urgrund eine Letztbegründung der Ethik, beziehungsweise ein Ausgangspunkt der ethischen Vernunft.

Es geschieht etwas Ahnliches bei Säuglingen. Diese suchen sich wiederkehrende Gesichter aus. Fehlen diese, sterben sie. Kehren sie nicht häufig genug wieder, dann entwickeln sich die Kleinkinder emotional unvollständig. Man könnte die Vermutung daraus ableiten, dass ähnlicherweise eine Fehlentwicklung bei ganz kleinen Kindern in Bezug auf Empathie zu entsprechenden Defiziten führt. Demnach wäre ein Heranwachsen in einem Familienverbund (d.h. in der Umgebung einiger weniger vertrauter Menschen) für die Ausbildung der moralischen Empfindungen unabdingbar. Das weiß auch jeder: Niemand stellt es ernsthaft in Frage. Eine interessante Beobachtung ergibt sich aus Experimenten, in denen Kleinkindern ungleichmäßige („ungerechte“) Behandlung (Bevorzugung, Benachteiligung) anderer Kinder vorgeführt wurde: das hat sie merkbar gestört; der Grad der Beunruhigung war allerdings unterschiedlich.

Wir haben es hier mit empirischen Feststellungen zu tun, die die Wenigsten im Kern würden anfechten wollen. Die Schlussfolgerung: Die Empathie als eine wesentliche Triebfeder zur Moral ist (zumindest bei den meisten Menschen) angeboren, sie muss aber aktiviert, gepflegt und ausgebildet werden. Ist es soweit, dann ist beim Erwachsenen diese Wahrnehmung der Mitmenschen in Fleisch & Blut übergegangen. Das heißt nicht, dass nicht auch andere Triebfedern – z.B. der Drang zum Selbsterhalt, das Zurückschrecken vor Schmerzen, umgekehrt die Lust, sowie Neugier und Angst – bei dem Verhalten kräftig mitspielen. Die “Moral” selbst ist immer wieder wenig einheitlich und widerspruchsvoll; sie muss einigermaßen geordnet, auch gelenkt werden. Somit geht die Moral schief, wenn sie versucht, ohne Ethik – ohne Rückbesinnung – auszukommen. Sie geht aber ebenfalls schief, wenn versucht wird, dem Chaos der Sitten ein wesensfremdes oder künstliches Einheitsdenken aufzuzwingen.

III. Der weiteste Horizont

Eine gedankliche Letztbegründung, die nicht (nur) auf Beweggründen beim Einzelnen ruht, bleibt aus. Das wäre, in der westlichen Tradition, das Gute an sich. Es handelt sich um eine Ausdrucksweise: um ein schwimmendes Wort, das leicht dahergesagt wird. Wie auch das Wort „Gott“. Welcher Sprache man sich bedienen will – welche Bezeichnungen man wählt, das soll dem Einzelnen überlassen werden. Ein wenig Inhalt ist jedoch möglich und angebracht. Wie wäre es mit: Eine Gesellschaft – eine Welt – mit einem großen Maß an Vielfalt. In der die unterschiedlichen Menschen einander zuspielen. Wo viele verschiedene Talente gedeihen. Das wäre eine Vision, die über das Schicksal des Einzelnen und auch des eigenen Familien- und Freundesverbundes, über das Schicksal des eigenen Volkes und zum Teil der eigenen Kultur hinausgeht. Das wäre im Übrigen ein Gegenbild zum Fundamentalismus.

IV. Vernunft & Unvernunft

Bei der angewandten Vernunft handelt es sich jeweils um eine lange Kette an Feststellungen und Argumenten, die für wahr beziehungsweise gültig gehalten werden. Jede Kette hat einen Beginn und ein Ende; eine unendliche Kette wäre unbrauchbar. Meist ist ein Großteil einer Vernunftkette nur angedacht: Es herrscht Einigkeit über viele Hintergedanken, und diese müssen nicht ausbuchstabiert werden. Bei der angewandten Vernunft, wenn die Ankettung einmal ausdrücklich beschrieben wird, dürften wir ferner nicht geneigt sein, Beginn und Ende in Frage zu stellen.

Es ist nicht vernünftig, es wäre vielmehr Hybris, alle Ketten in einer Theorie verbinden zu wollen. Dies ist auch niemals nur annähernd gelungen. Die menschliche Welt bleibt fragmentiert. Eine reine – alleinstehende, übergreifende – Vernunft gibt es nicht.

Wenn die angedachte Kette an Feststellungen und Argumenten unzureichend lang ist, liegt ein Kurzschluss vor. Bei einem Kurzschluss mag die Logik einwandfrei sein, die (versteckten) Prämissen sind aber leicht anfechtbar.

Man nehme als Beispiel, wie unter Finanzleuten über das große Geld berichtet und nachgedacht wird, wenn die Verbindung zur eigentlichen Bewirtschaftung der Ressourcen und die Verfügung darüber außer Acht gelassen wird. Hier herrscht häufig eine totale Unvernunft, auch wenn vordergründig die Mathematik stimmt.

In bestimmten – besonders deutschen – Kreisen wird über Vernunft (aber auch über „Werte“ und anderes) gesprochen & geschrieben, als ob es sich um einen Gegenstand handeln würde, der mit anderen Gegenständen in Beziehung steht und den man abstrahiert eruieren könnte. Diese Ausdrucksweise ist irreführend. Sie kommt nicht zuletzt von der beliebten Substantivierung her. Aus einer grammatikalischen Eigenart entsteht ein Denkfehler. Wenn man jeweils davon sprechen würde, was nun vernünftig oder weniger vernünftig (oder „wertvoll“) ist, so wäre man halbwegs gefeit gegen diese Verführung. Man formuliere eine Problemstellung um; wenn dies nicht gelingt, so lag auch kein Problem vor.

So wird in der Moralphilosophie der Versuch unternommen – wenn auch eher von Theologen und sonstigen Religionsanhängern als von ausgebildeten Philosophen – die ganze Moral auf einen Satz oder ein Wort (oder ein Werbeplakat) zu bringen;– zum Beispiel Menschenliebe oder die Goldene Regel oder Gegenseitigkeit. Wenn man aber differenziert vorgeht, so erkennt man, dass in verschiedenen Zusammenhängen entsprechend nuanciert nachgedacht und argumentiert werden muss. „Nuanciert“ heißt nicht, dass man ein Urteil oder eine Stellungnahme ewig vor sich her schiebt. Die praktische Vernunft lebt in der Zeit.