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Manifest gegen die Moralfloskeln
Wetten gegen die Werte
Erste Behauptung
Es gibt kein alleiniges Kriterium, keine allgemeingültige Formel, keinen Algorithmus, um die ethische Beschaffenheit einer Handlung festzustellen.
Viele wollen sich nach den Folgen richten, andere nach dem Wesen; oder nach den Absichten eines guten Willens. Einige (die Rechtsbesessenen) wollen die Einhaltung von Gesetzen hochhalten, und sich (wenn nicht den staatlichen dann doch) inneren Gesetzen verpflichten. Einige beschwören die überlieferten Sitten, denn in Zeiten der Not bieten diese einen gewissen Rückhalt. Es kommt aber auf die Rechtschaffenheit der alteingesessenen Kultur an, und diese ist keineswegs immer gegeben.
Vielleicht lässt sich die Suche nach einer allgemeinen Grundlage für Ethik & Moral vergleichen mit den Bemühungen der Physiker, eine allgemeine Theorie zu entwickeln, die sowohl die kleinsten Geschehnisse (Quantum) als auch die ganz großen Entfernungen (Relativität) vereint. Ob sich dieser schwarze Schwan finden lässt, oder es doch nur bei einer geschwärzten Ente bleibt?
Zweite Behauptung
Die einzelnen Handlungen finden nicht in einem Vakuum statt. Eine Handlung kommt nie allein, sie lässt sich erst im Kontext der anderen Handlungen erkennen. Der Kontext kann auch einen Lebensabschnitt einschließen. In diesem Fall lässt sich die Handlung erst im Spiegelbild des Charakters des Handelnden werten und der Charakter wiederum nur anhand seiner Lebensführung erkennen, und diese besteht womöglich aus mehr als der Summe der Handlungen. Der Charakter gestaltet sich selbst im größeren Zusammenhang, nämlich der nahen Gemeinschaft und der ferner liegenden Gesellschaft. Diese können im besten Fall besser als andere sein, sie mögen auf ein langfristiges Gedeihen ausgerichtet sein, unbedenklich gut sind sie nirgends.
Somit kehren wir wieder zur ersten Behauptung zurück: Es gibt keinen fixen Punkt für die Ethik, so wenig wie der Erdball auf einem festen Fundament beruht: Man muss die Sachen rund anschauen, und dabei ist der eigene Blick selbst immer nur unvollkommen. Die Bezeichnung „gut“ lässt sich eben nicht endgültig definieren, sie schwebt eher über den Sachen wie ein Segen und verfliegt, sobald sich der Fluch oder auch nur ein Hauch des Fundamentalismus festmacht.
Trotzdem muss man mitten im Leben Mut fassen, Urteile bilden und danach handeln, auch auf die Gefahr hin, doch daneben zu schießen.
Dritte Behauptung
Alles Gerede von Werten, Tugenden, von moralischen Rechten und Ethik ist im ersten Augenblick ein Blankoscheck. Ob der Aussteller den Scheck decken kann? Dafür muss eine Angriffsfläche vorhanden sein, man müsste erkennen können, wie man überhaupt anderer Meinung sein könnte. Wer zum Beispiel dafür plädiert, dass Werte wichtig sind, hat auf der Suche nach Konsens sich nur zum intellektuellen Bankrott bekannt.
Vierte Behauptung
Die Weigerung von nachdenklichen Menschen, absolute Werte zu setzen oder unbedingte Urteile auszusprechen, bedeutet noch lange nicht, dass es ihnen zufolge keinen Halt in der moralischen Welt gibt oder dass alles „relativ“ und somit subjektiv und unverbindlich ist. Es handelt sich vielmehr um die Weigerung, ein missverständliches Urteil abzugeben oder eine vorschnelle Verallgemeinerung zu wagen. Im Einzelfall, bei Vorlage aller Fakten und Hintergründe, mögen die zurückhaltenden Beobachter sehr wohl bereit sein, ohne Wenn und Aber ein Urteil zu fällen. Es bleibt aber bei dem Einzelfall. Wenn einer sagt, es käme darauf an, so ist er nicht unbedingt einem Relativismus – einem kulturellen Relativismus, zum Beispiel – verfallen, sondern er erweist sich bei seiner Urteilsbildung als vorsichtig und überlegt.
Fünfte Behauptung
Der Gang zu „Gott“ und das Zitieren von religiösen Texten sind in einer öffentlichen Debatte um Ethik geschmacklos. Es sind diese keine Instanzen mehr, die Allgemeingültigkeit genießen. Man mag für sich und unter Gläubigen diese Autoritäten anrufen, außerhalb dieses geschlossenen Kreises ist solches Gerede nicht statthaft. Das Gleiche gilt aber – und hier werden die vielen Verbildeten der Hochschulen ins Visier genommen – für den schnellen Bezug (nebenbei) auf die Bücher der Vordenker und die angeblichen Befunde der „Wissenschaft“.
Alle Argumente und Einwände lassen sich, wenn auch manchmal umständlich, in meist gängigen Worten fassen, und es ist eine Sache der intellektuellen Ehre, sich allgemeinverständlich und konkret ausdrücken zu wollen.
Damit wird auch vor dem verbreiteten Verständnis von Ethik als Instanz, die als eigenständige Autorität bedenkenlos im Sinne des Sprechers eingespannt werden kann, gewarnt. Ethik ist im besten Fall ein Kürzel für verschiedene, tiefsitzende Denk- und Verhaltensweisen, die selbst von den Menschen unterschiedlich geteilt werden. Mit einem Kürzel allein hat man ein Argument versprochen, noch lange nicht geliefert. Zur Ethik gehört normalerweise die Norm, Versprechungen einzuhalten.
Die Sprechweise mit Hervorhebung von Ethik und Werte und dergleichen führt sogleich in die Irre, denn diese Worte hören sich eben nicht als Kürzel für Komplexes an, sondern als Benennungen für Gegenstände, wie Fixsterne am Himmel. Somit werden Metaphern wörtlich genommen, und schon ist der Wurm darin.
Alternativ lässt sich die Ethik gut als verlängerte Vernunft auffassen. Somit entsteht kein direkter Gegensatz zwischen dem Gebot der Vernunft und den Anforderungen der Ethik.
Sechste Behauptung
Die Aufgabe der Ethik besteht nicht darin, ein Mehr an Moral zu verlangen. Viel Unfug rührt von der missverstandenen Ethik her, d.h. von der Moral an falscher Stelle. Man befasse sich – kritisch und selbstkritisch, versteht sich – mit Ethik, weil man sonst Gefahr läuft, sich und anderen mit gutem Gewissen zu schaden.
Siebte Behauptung
Als Alternativbegriff zu Ethik & Moral empfiehlt sich die Verantwortung. Bei diesem Wort ist gleich ersichtlich, dass es um Verteilung, Übernahme und Zuweisung geht. Niemand ist für alles verantwortlich, aber jeder für einiges. Demzufolge gehört zu den eigentlichen Aufgaben der Ethik das Nachdenken über die fließenden Grenzen zwischen den Sphären der Verantwortung. Hier sind ausschlaggebend der Blick fürs Detail, die Kunst der feinen Unterscheidungen und umgekehrt das Auge für das große Bild. Hier hilft die Theorie, die Aufgabe richtig zu erfassen; sie auszuführen ist Sache der Praxis.
Die Kunst der Ethik und die Anmaßungen der Wissenschaft
I.
Man könnte sich schon schön einschüchtern lassen, wenn man die Masse an Veröffentlichungen zu Themen rund um die Ethik überfliegt. Würde man beginnen, das alles anzulesen, was denn zu den einzelnen Bereichen — zum Beispiel zur Wirtschafts ethik oder medizinischen Ethik — angeboten wird, so könnte man beeindruckt oder bedrückt sein. Bei so viel Umtrieb müssten sich allmählich merkliche Fortschritte in der Praxis zeigen. Und sie zeigen sich doch nicht. Woran kann das liegen? Der Grundfehler steckt schon darin, wenn man meint, es wäre ein Gegenstand — die Ethik — vorhanden, der wissen schaftlich untersucht werden müsste oder könnte. Somit wird Ethik als etwas verstanden, das außerhalb anderer Denkweisen liegt. Demnach würde man zum Beispiel betriebswirtschaftlich denken, und als Zutat würde die Ethik hinzukommen. Schon ist der Wurm darin.
Es ist anders. Die Ethik ist eine umfassende, weiterführende Art zu denken, die aber immer mit großer Aufmerksamkeit für die jeweilige Situation verbunden ist. Mehr nicht, aber schon recht anspruchsvoll. Das ist eher wie eine Gratwanderung zwischen Wolken, Abgrund und dem festen Boden, der doch nicht rutschfest ist. Die wissenschaftliche Literatur zur Theorie der Gratwanderungen dürfte dürftig sein: Über Gratwanderungen wird nicht geforscht, höchstens über Unfälle berichtet.
Man mag sich wundern wer alles, der sich zum Thema Ethik meldet, aus der Ecke Theologie kommt. Wer schon über zeugt ist, es gäbe einen Gott, der sich als Forschungsgegenstand oder Thema für Theorien eignen könne, dürfte keine Vorbehal te haben, auch die Ethik als anzubetendes oder eigenständiges Wesen zu denken. Hinzu kommen die Agnostiker, die ihre Religion gegen den Glauben an eine überirdische Ethik — oder alternativ an die Allmacht der Liebe — ausgetauscht haben. Viele von diesen könnte man mit dem englischen Begriff „closet Christians“ — also Christen, die sich ihren Glauben nicht richtig eingestehen — bezeichnen.
Ein weiterer Fehlgriff ist die Vergöttlichung der Ratio nalität. Oder bei einigen Geistern deren Verteufelung. Als ob es ein Für oder Wider geben würde. Eine Kette der vernünftigen Überlegungen oder Begründungen kommt immer zum Ende. Ein Spaziergang auch. Damit ist der Nutzen des Spaziergangs oder der Beweisführung aber nicht erschöpft.
Die Ethik wäre demnach nur eine Art der Rationalität, die sich vornimmt, umfassender, weitsichtiger, aufmerksamer zu sein. Egoistisch eben nicht, aber auch nicht Bedienstete oder Opfer der Belange der Anderen. Also keine amputierte Rationalität.
Mit der Ethik verbinden sich verschiedene Denkweisen, die sich leicht in die Quere kommen. Darüber lässt sich wissen schaftlich — sprich diszipliniert — austauschen. Man kann auf die Handlungen schauen und deren Folgen, oder sonst ihr innewohnendes Wesen begutachten, und die jeweiligen Befunde sind nicht deckungsgleich. Bei manchen Kategorien von Handlungen geht man eher von den Folgen aus, bei anderen schaut man nach der Substanz oder auf die Trieb feder. Als Gesundheitsminister mag man die Ausgaben nach einem utilitaristischen Prinzip kalkulieren, denn lieber viele Menschen bei Gesundheit halten als wenige; als Pfleger oder Theologe mag man eher den Blick auf das Individuum, seinen Lebenswillen oder auch sein Leiden richten.
Mit der Ethik verbinden sich also verschiedene Denk weisen, die sich teilweise auf einzelne Handlungen oder Kategorien von Handlungen richten, teilweise aber auf die Menschentypen, die von der Tendenz her so (und eben nicht anders) handeln. Man dürfte bei diesen auch von Charakter sprechen, sogar von Seele. Mit der Ethik verbinden sich einander widersprechende Denkweisen, so einerseits rückblickend bei der Urteilsbildung (über andere, über sich), andererseits zukunftsweisend, wenn man entscheiden muss, welchen Weg man einschlagen soll. Mit der Ethik kommt die Urteilsbildung, wenn man einerseits die feinen Unterschiede merkt und die schmalspurigen Unterscheidungen macht und andererseits die Ähnlichkeiten erkennt, da, wo es auf den ersten Blick nichts zu vergleichen gibt. Dazu gehört eine geistige — auch gefühls mäßige — Beweglichkeit. Man muss sich von seinen Vorurteilen, Voreingenommenheiten, Vorlieben und Denkgewohnheiten befreien können und trotzdem nach diesem Sprung aufrecht und aufrichtig auf dem Boden landen.
Somit ist die Ethik eher Kunst und Kunstfertigkeit, Kennen und Können, und weniger Wissen und Wissenschaft.
II.
Wie kommt es, dass die vielen klugen Leute (und klug sind sie doch!) nie zum Abschluss kommen, immer wieder ihre Gedanken weiterspinnen über die Welt und das Ethos, die Philosophie und die vielen verwandten „Wissenschaften“? Was treiben sie bloß?
Sie erfinden neue Sprechweisen. Zu dieser Leistung der Hochschulmenschen gehören viel Phantasie und Intelligenz, und deren Ansatz ist nicht unbedingt verkehrt. Um auf neue Wege zu gelangen, muss man sich nicht selten zuerst einer neuen Sprache bedienen und somit eine ungewohnte Sicht weise aneignen. Oftmals aber schlägt der Versuch fehl. Man hat sich aus der alten Sprache doch nicht befreit, bloß neue Wörter erfunden und diese zur Verunsicherung und Irritation der zurückgebliebenen Anderen eingesetzt, da, wo die alten Begriffe noch integer und verständlich waren.
Somit lassen sich unter den Wissenschaftlern alte Schlachten neu inszenieren. Die vielen Fehler, die schon längst beseitigt wurden, flackern neu auf wie Flammen aus der Asche. Und so geht die Akademie ihren ewigen Gang.
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